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Laudatio · Refugee Law Clinic Giessen

Die Laudatio zur Verleihung des Peter Becker-Preises
für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität zu Marburg

Berlin, 14. Dezember 2015 Aula der Alten Universität · 35037 Marburg · Freitag, 11. 12. 2015, 17 Uhr


Laudatio auf die Refugee Law Clinic der Justus-Liebig-Universität Gießen
Otto Jäckel, Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht · Fachanwalt für Verwaltungsrecht · Vorsitzender IALANA Deutschland



Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Vizepräsident, sehr geehrter Herr Bürgermeister, lieber Peter Becker,

sehr geehrte Damen und Herren,
mit seinem im Oktober vergangenen Jahres erschienenen Roman „Grey Mountain“ hat John Grisham erstmals einer Legal Aid Clinic ein literarisches Denkmal gesetzt. Hauptfigur ist eine junge Anwältin aus New York, die nach der Pleite von Lehman Brothers von ihrer Großkanzlei das Angebot erhält, anstatt entlassen zu werden für ein Jahr ohne Bezahlung in einer Legal Aid Clinic im hinterwäldlerischen Virginia zu arbeiten. Das Angebot ist verbunden mit der Option der Weiterbeschäftigung nach einem Jahr, wenn sich die Lage nach dem Beginn der Finanzkrise wieder erholt hat. Die junge Anwältin, die bis dahin nur Verträge entworfen und geprüft und noch nie einen Mandanten, geschweige denn einen Gerichtssaal von innen zu Gesicht bekommen hat, wird in den Appalachen erstmals mit den Problemen realer Menschen vor dem Hintergrund einer gigantischen Um-weltzerstörung konfrontiert. Bei dem Kohletagebau im Wege des „mountain-top-removal“ werden die Berggipfel der landschaftlich wunderschönen Gebirgskette weggesprengt, bis die Kohleflöze frei liegen. In der Legal Aid Clinic muss sie lernen, ihr juristisches Handwerkszeug zur Lösung realer Probleme lebendiger Menschen anzuwenden, der Minenarbeiter und ihrer Familien. Der Roman kann zugleich als Appell zur Decarbonisation, das heißt zur schrittweisen Beendigung der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Gas für die Energieversorgung verstanden werden, ein Ziel, das – wie ich auf der Fahrt hierher im Radio gehört habe - bei dem Pariser Klimagipfel kein Thema mehr ist. Wie die Geschichte weitergeht, lesen Sie bitte selbst.
Wir setzen heute mit der Verleihung des Peter-Becker-Preises für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg erstmals in Deutschland einer Legal Aid Clinic ein Denkmal.

Die im Wintersemester 2007/2008 an der Justus Liebig-Universität Gießen gegründete Refugee-Law-Clinic war die Vorreiterin ihrer Art und Vorbild für ähnliche Projekte an der Humboldt Universität in Berlin, in München, Hamburg und Leipzig, um nur diese zu nennen. Die Initiative ging aus von dem Frankfurter Verwaltungsrichter Prof. Dr. Dr. Paul Tiedemann, der bei Prof. Thomas Groß in Gießen ein offenes Ohr fand. Inzwischen ist die Refugee Law Clinic bei der Professur für Öffentliches Recht von Herrn Prof. Dr. Jürgen Bast verankert. Die Refugee Law Clinic verknüpft universitäre und praktische Ausbil-dungselemente. Fundament ist die wöchentliche Vorlesung, die Prof. Tiedemann jeweils im Wintersemester zu dem Thema „Deutsches, Europäisches und internationales Flüchtlingsrecht“ hält. Inhalt ist sowohl das materielle Aufenthalts- und Flüchtlingsrecht als auch das Verwaltungsverfahrensrecht und das Recht des gerichtlichen Rechtsschutzes. Ver-mittelt wird dabei ebenso die Sachverhaltsermittlung und –darstellung. Nach dem Wintersemester werden jeweils 15 Studierende aus dem Feld der Bewerberinnen und Bewerber in den praktischen Teil der Ausbildung aufgenommen. Diese beginnt mit einem Praktikum in den Semesterferien in einer auf Flüchtlingsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei oder bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit der Durchführung eines unter Aufsicht geführten Beratungsgesprächs und der Anfertigung eines Protokolls. Im Sommersemester wird in einem Seminar ein Rechtsgutachten zu den Erfolgsaussichten eines Asylantrags oder von Rechtsmitteln gegen einen Widerrufsbescheid erstellt und eine Übung zur Durchführung von Beratungsgesprächen besucht. Zugleich beginnt im Sommersemester der Beginn des Einstiegs in die Hospitationsphase. Dabei werden die Studierenden von den hauptamtlichen Mitarbeitern des Dekanats der evangelischen Kirche, die auf dem Gelände der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen ihre Beratungsstelle hat, an die selbständige Beratung der Flüchtlinge herangeführt. Ziel ist der Erwerb der Befähigung, Flüchtlinge selbständig bei ihrer Vorbereitung auf die Anhörung durch die Beamten des BAMF zu beraten, Anhörungsprotokolle und Ablehnungsbe-scheide rechtlich zu bewerten und Rechtsmittel zu entwerfen. Die selbständige Beratung steht unter der Supervision von Rechtsanwalt Dr. Stephan Hocks, womit die RLC zugleich die Anforderungen des § 6 Abs. 2 Rechtsdienstleistungsgesetz für außergerichtliche unentgeltliche Dienstleistungen erfüllt.

So verknüpft die Refugee Law Clinic Gießen nicht nur in hoch motivierender Weise schon in der universitären Ausbildung Theorie und Praxis – von einem solchen Ansatz konnte ich während meines Jurastudiums in Marburg und Gießen nicht einmal träumen – sie bringt auch Jahr für Jahr 15 gut ausgebildete Spezialisten auf dem Gebiet des Aufent-halts- und Flüchtlingsrechts hervor, für die angesichts des derzeitigen Zustroms von Flüchtlingen dringender gesellschaftlicher Bedarf besteht. Das ist in der Tat beispielgebend und preiswürdig. Man kann natürlich die Frage stellen, ob eine Refugee Law Clinic neben den auf diesem Gebiet tätigen Anwälten ausreicht, den erforderlichen Rechtsschutz für die hohe Zahl der ins Land strömenden Flüchtlinge zu gewährleisten. Hierfür gilt das Gleiche wie derzeit für die Verteilung und Unterbringung, für die Belastung des BAMF, der Ausländer-und Sozialbehörden und der Verwaltungsgerichte. Überall besteht ein Zustand äußerster Belastung, der neue Maßnahmen erforderlich macht.

Meine Damen und Herren,
ich bezweifele allerdings, ob die derzeit von der Großen Koalition ergriffenen Maßnah-men in allen Bereichen in die richtige Richtung gehen und zwar sowohl bezüglich der humanitären Bewältigung der Flüchtlingskrise als auch bezüglich der Bekämpfung der Fluchtursachen.

60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Nur ein geringer, aber größer werdender Anteil von ihnen verlässt die Konfliktregionen und macht sich auf den Weg nach Europa. Europa mit einer Gesamtbevölkerung von 500 Millionen Einwohnern kann sicher die Aufnahme von 2 Millionen Flüchtlingen verkraften. Dies geht aber nur, wenn man die Dublin-III-Verordnung , wonach das Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, auf dessen Boden ein Flüchtling von außerhalb der EU kommend zuerst seinen Fuß gesetzt hat, endgültig als ungeeignet für die Lösung des Problems über Bord wirft. Es ist offensichtlich, dass Griechenland und Italien allein das Problem nicht stemmen können. Es muss also eine gerechte Verteilungsregelung gefunden werden, bei der jedoch die individuelle Lage der Flüchtlinge zu berücksichtigen ist, wenn man ernst-haft eine Integrationslösung anstrebt. Wer bereits nahe verwandte in Deutschland hat und sogar deutsch spricht, wird sich in Norwegen oder Ungarn kaum integrieren.

Die Aufgabe der Dublin-Regelung würde auch zu einer wesentlichen Beschleunigung der Prüfungen des BAMF führen, weil die aufwendige und zeitraubende Ermittlung des Fluchtwegs entfiele. Jetzt hat Behördenleiter Weise die Schlagzahl erhöht und verlangt von jedem Entscheider sieben Entscheidungen statt bisher drei pro Tag. Es ist völlig un-erfindlich, wie ein Beamter bei einer Stunde pro Fall ein individuelles Verfolgungsschicksal, das sich oft über Jahre einer persönlichen Biographie entwickelt, mit der erforderlichen Qualität beurteilen soll. Mir klingt heute noch die genervte Stimme eines Beamten in einer Anhörung eines Asylbewerbers, den ich begleitete, im Ohr, der ungeduldig immer nur den Satz: „Sonst noch Gründe?“ wiederholte. Eine weitere Erhöhung des Durchsat-zes ist angesichts der Bedeutung der Entscheidung für die Betroffenen: Bleiben in Sicherheit oder Abschiebung in Ungewissheit und Gefahr völlig unerträglich. Der Personalbestand der Behörde muss daher noch erheblich ausgebaut werden.

Auch was Aufenthalt und Unterbringung anbelangt, ist die Ghettoisierung in Aufnahme-einrichtungen und die Reduzierung der Versorgung auf Sachleistungen und das Arbeits-verbot, die erklärtermaßen abschreckende Wirkung haben sollen, der falsche Weg. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 18.7.2012 klargestellt, dass das aus der Menschenwürde abgeleitete Existenzminimum sowohl aus dem physischen als auch aus dem soziokulturellen Existenzminimum besteht. Damit sind die Regelungen in den Asylpaketen der Großen Koalition betreffend die Residenzpflicht in Lagern und die Versorgung mit Sachleistungen kaum vereinbar. Zudem führt die Ghettobildung in Lagern zu internen Spannungen zwischen den Flüchtlingen, provoziert fremdenfeindliche Reaktionen in der ansässigen Bevölkerung und wirkt der Integration entgegen. Sie erschwert zudem erheblich den Zugang der Flüchtlinge zu qualifizierter Beratung und Vertretung durch Anwälte oder ehrenamtliche Berater. Hinzu kommt, dass die inzwischen eingeführte Abschiebung ohne vorherige Ankündi-gung, die gerne zur Nachtzeit oder in den frühen Morgenstunden durchgeführt wird und im Einzelfall auch nicht vor Frauen mit Risikoschwangerschaft Halt macht, sehr böse Erinnerungen wachruft.

Meine Damen und Herren,
was für eine unwürdige Diskussion wird derzeit über Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen geführt! Nach der Jungen Union hat jetzt auch der Ministerpräsident von Sachsen Anhalt, Haseloff, in der Debatte seinen Finger gehoben und in einem Interview in der FAZ von heute, 11.12.2015, die Grenze für Deutschland mit 400.000 und die für sein Bundesland auf 12.000 beziffert. Will er dem nächsten, der kommt sagen: „Es tut uns leid, Dein Grundrecht ist verwirkt, weil wir schon 12.000 anderen geholfen haben“? Das Grundrecht auf Asyl, auf Schutz vor Verfolgung ist wie das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein universelles Menschenrecht. Das muss auch in Magdeburg gelten, meine Damen und Herren!

Und wenn seine Position dazu dienen soll, der Stimmung Rechnung zu tragen, die durch die Magida-Aktivisten produziert wird, die jeden Montag mit „Wir sind das Volk“ durch Magdeburg ziehen, dann sollte er einen Blick nach Westen werfen auf die Situation in Frankreich. Dort hat sich gerade bei den Regionalwahlen gezeigt, dass Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik nach rechts nur die Rechtskräfte in ihrer Position bestätigen und ihre Akzeptanz bei den Bürgern bestärkt. Das ist ein gefährlicher Weg!

Meine Damen und Herren,
was die Bekämpfung der Fluchtursachen anbelangt, hat Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland in einem Beitrag in der FAZ vom 6. Dezember 2015 zu Recht daran erinnert, dass der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen die Unterstützung der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern im Na-hen Osten seit 1. Januar 2015 von 27 Dollar pro Kopf und Monat auf 13,50 Dollar kürzen musste. Die inzwischen erfolgten Finanzierungszusagen der EU haben nicht einmal dazu geführt, dass der geringe Geldbetrag, der noch 2014 für die Flüchtlinge in den Lagern gezahlt wurde, wieder erreicht wird.

Meine Damen und Herren, so wird man den Exodus aus den Lagern im Nahen Osten in Richtung Europa nicht stoppen!

Meine Damen und Herren,
Die meisten Flüchtlinge, die sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa aufma-chen, kommen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. „Does that ring a bell?“, könnte man auf neudeutsch fragen.
In dem Beschluss der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD zur Flüchtlingspolitik vom 5. November 2015 heißt es zu Afghanistan, eine Intensivierung der Rückführungen solle ermöglicht werden. In der politischen Diskussion ist auch schon davon die Rede, Afghanistan zum „sicheren Herkunftsland“ zu erklären. Der Bericht über den Besuch von Verteidigungsministerin Von der Leyen in Afghanistan in der FAZ vom 8. Dezember 2015 ist allerdings überschrieben mit den Worten: „Im Land des blutigen Patts“.

Unterzeile: „Bei ihrem Besuch in Afghanistan kann sich Ursula von der Leyen ein Bild von der prekären Lage machen, vor der viele Menschen fliehen“. Man fragt sich, lesen unsere Innenpolitiker keine Zeitung? Nehmen sie die Lageberichte des BND nicht zur Kenntnis?

In den vielen Gesprächen, die ich in Kabul mit Politikern, von dem Vorsitzenden der Linkspartei bis ehemaligen Ministern der Taliban, mit Professoren, Ärzten, Vertretern von Frauen- und Gefangenenhilfsorganisationen geführt habe, ist mir eins klar geworden – und darüber habe ich im vergangenen Frühjahr auch gemeinsam mit Peter Scholl Latour als Sachverständiger vor dem Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages berichtet: In Afghanistan kann erst dann Frieden einkehren, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte einschließlich der Taliban die Möglichkeit erhalten, an der Gestaltung der Zukunft des Landes mit zu wirken. Seit 2001 schützen US-Armee und Bundeswehr Regierungen, die ausschließlich von den korrupten Vertretern der Nordallianz gestellt werden. Dies ist für die Mehrzahl der Afghanen ein unerträglicher Zustand. Das Gleiche gilt für den Aus-schluss der früheren sunnitischen Herrschaftseliten von der Beteiligung an der Macht im Irak. Ohne einen nationalen Ausgleich der Interessen, wonach auch Sunniten wieder führende Rollen in Armee und Verwaltung und im Wirtschaftsleben des Landes spielen kön-nen, wird es keine Abkehr dieser Kräfte von den Führern des Islamischen Staats geben. Darauf sollten wir in diplomatischen Bemühungen hinwirken und unsere Tornados zu Hause lassen!

Meine Damen und Herren,
Wenn es eine erfreuliche Entwicklung im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise gegeben hat, dann ist es die große Welle der Hilfsbereitschaft und das ehrenamtliche Enga-gement bei der Hilfe für die Menschen. Zu diesen Helfern gehören auch die Hochschul-lehrer, Rechtsanwälte und vor allem die Studierenden der Refugee Law Clinic Gießen.

In einem Gespräch mit dem „Spiegel“ hat der Initiator der Refugee Law Clinic, Prof. Tiedemann, einmal gesagt: „Jura Studenten kann man, grob gesagt, in drei Gruppen aufteilen: diejenigen, die Geld machen wollen, solche, die nicht wussten, was sie sonst studieren sollten und die Idealisten: Denen liegen Recht und Gerechtigkeit am Herzen.“ „Bei der Law Clinic“, sagte er, „sind die aus der dritten Gruppe.“
Ich muss sagen: „Mit solchen wunderbaren jungen Kolleginnen und Kollegen als Nach-wuchs kann man stolz darauf sein, der Berufsgruppe der Juristen anzugehören.

Meine Damen und Herren, Der Peter Becker-Preis für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Mar-burg geht an die Refugee Law Clinic Gießen!

Otto Jäckel
www.jaeckel-rechtsanwaelte.de  · www.ialana.de

15.12.2015.


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