Russischer Umweltschützer Alexander Nikitin freigesprochen
Bericht und Kommentar des Wiesbadener Rechtsanwalts Otto Jäckel, Vorstand von IALANA, der als Prozessbeobachter an dem Verfahren teilnahm. Was für den russischen Umwelt-Whistleblower Alexander Nikitin vor über vier Jahren mit fast elf Monaten Haft, Stadtarrest in Sankt Petersburg, öffentlichen Anfeindungen als Verräter und Bedrohung mit zwölf Jahren Gefängnis begann, hat sich nun offenbar in eine Erfolgsgeschichte gewandelt. Am 17. April 2000 bestätigte der Oberste Russische Gerichtshof in Moskau den sensationellen Freispruch des Sankt Petersburger Stadtgerichts vom 29.12.1999. Zwar kann die Staatsanwaltschaft hiergegen binnen Jahresfrist noch die Entscheidung durch das Präsidium des Obersten Gerichtshofs beantragen; mit einer Aufhebung des Freispruchs wird jetzt jedoch von keinem der Beobachter mehr gerechnet. Alexander Nikitin, dem ich als Prozessbeobachter von IALANA im vergangenen November in Sankt Petersburg den ersten deutschen Whistleblower-Preis überreichen durfte, kann endlich wieder aufatmen. Der sympathische, ruhige und durch den hohen Druck stets angespannt wirkende Kapitän 1. Klasse a.D. der Russischen Nordmeerflotte hat viel riskiert und dafür schulden wir ihm viel. Was wüssten wir ohne ihn über das Martyrium der Matrosen des Atom-U-Boots K 19? Nach einem Bruch des Kühlwasserrohrs am Reaktor geht der Reparaturtrupp in den radioaktiven Dampf, um ein Durchschmelzen und die Explosion des Reaktors zu verhindern. Einen Reservekühlkreislauf gibt es nicht. Acht Seeleute sterben an Strahlungsdosen von 5000-6000 rem. 10 Jahre später bricht auf der nur notdürftig reparierten K 19 ein Feuer aus: 28 Tote. Die Atom-U-Boot-Flotte, die aus Anlass der Wahl von Wladimir Putin zum Russischen Präsidenten „Salut“ schoss und zwei Interkontinentalraketen um den Erdball schickte, stellt schon im Frieden ein ungeheures Risiko dar. Elf schwere Reaktorunfälle auf den 160 Atom-U-Booten der Nordmeerflotte mit über 200 Todesopfern führt der Bericht von Nikitin auf, den er gemeinsam mit zwei weiteren Autoren für die Norwegische Umweltschutzorganisation Bellona verfasst hat. Drei U-Boote sanken und rosten mit dem Plutonium in den Atomsprengköpfen auf dem Meeresgrund. Um die Insel Nowaja Semlja wurde der atomare Abfall von 30 Jahren ins Meer gekippt: Die Reaktoren der K 19, der K 3 und der K 5, ein ganzes U-Boot mit zwei Neutronenreaktoren, ein Schlepper mit zweitausend Behältern voll radioaktiven Hartmetalls und weitere 17.000 Behälter, die einzeln versenkt wurden. Darüber hinaus rosten an den Piers auf Basen auf der Halbinsel Kola und im Bezirk Archangelsk 79 außer Dienst gestellte Atom-U-Boote, von denen der Kernbrennstoff noch nicht entfernt ist. Alexander Nikitin, im aktiven Dienst der Russischen Marine zuletzt oberster Sicherheitsinpekteur aller als Schiffsantrieb verwendeter Atomreaktoren, nutzte zur Abfassung des Bellona-Reports seinen abgelaufenen Dienstausweis, um in der Bibliothek der Russischen Marine in Sankt Petersburg zu arbeiten. Das Ergebnis konnte dem Russischen Geheimdienst nicht gefallen. Der FSB verhaftete Nikitin und klagte ihn wegen Geheimnisverrats und Spionage an. In dem folgenden vierjährigen Verfahren wurde die Anklageschrift mehrfach von den Gerichten an die Staatsanwaltschaft zur „Nachbesserung“ zurückgegeben. Einerseits sahen sie die Anklage nicht als ausreichend für eine Verurteilung an; andererseits verbot offenbar der politische Druck und die Loyalität gegenüber der Regierung lange Zeit eine Einstellung oder einen Freispruch. Schließlich hatte der Russische Präsident Wladimir Putin - zu dieser Zeit noch Chef des Geheimdienstes FSB - Nikitin persönlich am 8. Juli 1999 in einem Interview in der Komsomolskaja Prawda verurteilt. Bereits am 5. November 1998 hatte der Russische Minister für Atomenergie Jewgeni Adamow gegenüber Reportern erklärt, Nikitin habe der Russischen nationalen Sicherheit „enormen Schaden“ zugefügt. Nikitin hatte diese Äußerung zum Anlass genommen, den Minister wegen Verletzung seiner Ehre zivilgerichtlich zu verklagen. Im ersten Termin zur mündlichen Verhandlung in diesem Zivilprozess am 5. Oktober 1999 meinte der Anwalt von Adamow, Nikitin werde es noch bedauern, die Sache vor Gericht gebracht zu haben und deutete an, sein Auftraggeber habe die Macht, das Ergebnis des gegen Nikitin geführten Strafverfahrens zu beeinflussen. Die Reporterin eines Sankt Petersburger Senders, die über das Verfahren Nikitins gegen Adamow berichtete, ging sogar soweit zu fragen, was Nikitin denn überhaupt für eine Ehre haben könne, wo er es doch der NATO ermöglicht habe, Serbien zu bombardieren, weil er die Nukleargeheimnisse Russlands verraten habe. Vor diesem Hintergrund beruht der Freispruch in beiden Instanzen offenbar im wesentlichen auf zwei Faktoren. Zum einen ist er der klugen Strategie des Verteidigerteams unter Leitung von Rechtsanwalt Yuri Schmidt zu verdanken. Die Anwälte stützten sich darauf, dass Nikitin ausschließlich bereits publizierte Tatsachen und keine Geheimnisse in seinen Bericht aufgenommen habe. Weiterhin könnten Umweltdaten nach der Russischen Verfassung keiner Geheimhaltung unterliegen. Im Übrigen seien die Geheimhaltungsvorschriften, auf die sich die Anklage berief, erst nach der Veröffentlichung des Bellona-Reports in Kraft getreten. Auch nach der Russischen Verfassung gelte aber der Grundsatz: „Keine Strafe ohne Gesetz“. Zum anderen ist der Erfolg kaum denkbar ohne den Schutz, den das große internationale öffentliche Interesse für Alexander Nikitin bildete. Die Vielzahl der Prozessbeobachter, Schreiben an die Richter und Preisverleihungen an Alexander Nikitin, mit denen sein Mut und seine Zivilcourage gewürdigt wurden, haben die Richter offensichtlich nicht unbeeindruckt gelassen. Recht ging dadurch diesmal vor Macht. Alexander Nikitin und Bellona können nun befreit von dem enormen Druck der Kriminalisierung ihre Arbeit fortsetzen. Jeder Protestbrief, jede noch so kleine Mühe derer, die an dem Erfolg teilhaben, hat sich gelohnt. Es lohnt sich daher auch jede Mühe für nationale Regelungen und internationale Übereinkommen, die Whistleblower generell unter besonderen Schutz vor strafrechtlichen, zivilrechtlichen und arbeitsrechtlichen Sanktionen stellen. Hierfür einzutreten sind wir Menschen wie Alexander Nikitin schuldig. Rechtsanwalt Otto Jäckel, Wiesbaden, April 2000 www.jaeckel-rechtsanwaelte.de
02.04.2000.
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